Dann geht es Dir wie mir, in meiner Bulimie. Denn zu dieser Zeit hatte ich auch eine zweite Identität. Diese Identität hielt ich sorgfältig vor der Welt verborgen, hinter einer Fassade aus scheinbar unbeschwertem Verhalten. Ich wollte weiterhin alles essen können. Daher war es damals für mich die perfekte Lösung, mich nach dem Essen zu übergeben. Doch diese Doppelidentität war gekennzeichnet von Lügen, nicht nur gegenüber anderen, sondern auch gegenüber mir selbst.
Ich erinnere mich an die vielen Male, bei denen ich scheinbar mühelos bei jeder Mahlzeit dabei war – bei Geburtstagen, Partys, Grillabenden und normalen Restaurantbesuchen. Damals ließ ich mir nicht anmerken, dass ich Probleme mit dem Essen hatte. Aber beim Essen verspürte ich immer einen gewissen Druck. “Kann ich mich gleich ungestört übergeben?” “Was, wenn es doch jemand mitbekommt?” Und oft hatte ich auch einfach nur die Gedanken. „Wieso fällt denen das nicht auf?“ „So viel zu essen, ist doch unnormal.“ Doch es fiel niemandem auf, zumindest sagte niemand etwas.
Allerdings war das nur das, was man von außen sehen konnte; hinter dieser Maske verbarg sich eine andere Realität. Die Realität war eine Welt, in der Essen und Selbstwahrnehmung nicht nur eine tägliche Herausforderung, sondern ein ständiger Kampf war.
Meine 2. Identität war alles für mich.
Damit sie für andere nicht ersichtlich wurde, log ich natürlich oftmals geliebte Menschen an. Das waren oft Lügen auf scheinbar banale Fragen, wie zum Beispiel, wenn man mich fragte, was ich gegessen oder an dem Tag gemacht hatte. Dann dachte ich mir Geschichten aus. Denn die Wahrheit war, dass ich alleine zu Hause war und mich von einem Fressanfall in den nächsten stürzte. Ich weiß noch ganz genau, wie oft ich Gedanken hatte, wie „Wenn die wüssten …“. Nicht nur, wenn man mich nach meinem Tag fragte, sondern auch wenn ich an der Supermarktkasse stand und ich mir darüber Gedanken machte, was wohl die Kassiererin über meinen Einkauf dachte.
Doch für meine 2. Identität hätte ich alles gemacht. Ich habe Essen geklaut, mich heimlich übergeben und alles andere im Leben vernachlässigt. Nach außen hin war ich diszipliniert und hatte Spaß am Essen. Niemand kannte mein wahres Ich. Das wollte ich auch nicht aufgeben. Ich wollte nicht, dass jemand sieht, dass ich mein Leben nicht im Griff habe. Denn ich hatte Angst, dass man mir das Leben wegnimmt. Ich wollte nicht, dass man mir meine 2. Identität wegnimmt. Doch das Ganze ging natürlich nicht schmerzlos an mir vorbei …. Es hat mich sowohl körperlich als auch emotional fertig gemacht.
Die Komplexität von Essstörungen verstehen
Dabei ist meine Geschichte nur eine von vielen. Ich weiß aus meiner Arbeit als Coach für Frauen mit Essstörungen, dass Sie die Erfahrungen von unzähligen Menschen widerspiegeln, die mit einer Essstörung kämpfen. Dabei sind Essstörungen nicht nur ein individuelles Problem; sie sind ein weitverbreitetes Phänomen, das Menschen aller Altersgruppen, Geschlechter und egal welcher sozialen Hintergründe betrifft. Sie manifestieren sich in verschiedenen Formen, wie Anorexie, Bulimie oder der Binge-Eating-Störung. Und haben eines gemeinsam: Sie sind oft verborgene Leiden.
Allerdings sind Essstörungen entgegen der weitverbreiteten Meinung tiefgründiger als nur das offensichtliche Problem mit dem Essen. Das Essen ist häufig nur ein Symptom für tieferliegende psychologische Herausforderungen, wie geringes Selbstwertgefühl, Perfektionismus, Kontrollbedürfnis oder emotionale Traumata. Das Essen oder die Verweigerung davon werden zu einem Mittel der Bewältigung, der Kontrolle, des Ausdrucks oder der Bestrafung. Dies führt zu einem verhängnisvollen Kreislauf aus Verheimlichung, Scham und Isolation.
Wieso teile ich meine Geschichte?
Diese Erlebnisse möchte ich mit Dir teilen, um Dir zu zeigen, dass Du nicht alleine bist. Falls Du Dich in einer ähnlichen Situation befindest, möchte ich Dir sagen, dass Du Dich deswegen nicht schlecht fühlen musst. Denn auch wenn Du Menschen belügst, die Du eigentlich liebst, musst Du Dich nicht verurteilen. Dass Du diesen Weg wählst, zeigt nur, dass Du einen unglaublichen Schmerz verspürst und keinen anderen Ausweg siehst. Sich eine 2. Identität aufzubauen, die Menschen anzulügen, die man liebt, ist in Deiner Situation ein normales Verhalten. Dein Weg ist ok. Du bist ok. Und Du bist damit nicht alleine.
Du musst Dich nicht schämen. In der Bulimie war es bei mir so, dass ich mich oft von einem Fressanfall zum nächsten hangelte. Da konnte ich mich einfach kaum auf andere Sachen konzentrieren. Heute weiß ich, dass ich damals alles versucht habe, meine innere Leere nicht zu fühlen. Ich habe mich damals an der Bestätigung von außen erfreut. Doch dieser Weg wird nicht funktionieren.
Es geht nicht darum, gegen Deine Essstörung anzukämpfen. Sondern zu schauen, was dahintersteckt. Ich wusste es damals nicht und hatte gedacht, dass die Bulimie mein Schicksal wäre. Aber Du kannst ein Bewusstsein für Deine Situation erschaffen und einen Schritt nach dem anderen gehen, um dann Deine 2. Identität hinter Dir zu lassen. Nicht für die Welt, sondern für Dich. Für Dich und für ein freieres, leichteres Leben.
Heimlichkeit nährt Deine Essstörung
Das große Problem an der zweiten Identität ist, dass Du durch das Verheimlichen Deiner wahren Identität diese schwächst und es so keine Möglichkeit der Heilung gibt. Essstörungen nähren sich von Scham, Schuld, Lügen und Verheimlichung.
Also, wenn Du mir von Deinem Geheimnis erzählen möchtest, dann kannst Du mir gerne schreiben. Denn ich verstehe und fühle Dich. Ich kann Dich an einem bestimmten Punkt auffangen. Ich konnte es damals niemandem erzählen, weil ich Angst hatte, dass man mir das wegnimmt. Und ich hätte mir gerne eine Person gewünscht, die mich an die Hand nimmt. Also, habe keine Angst, Du kannst mir gerne schreiben.
Frage Dich, warum Du das Essen brauchst, warum ist der Drang da?
Falls Du mit niemandem über Dein Geheimnis sprechen möchtest und mir nicht schreiben möchtest, ist das auch okay. Ich gebe Dir nachfolgend 3 Dinge mit an die Hand, an denen Du selbstständig arbeiten kannst. Diese Dinge haben mir auch geholfen und ich bin mir sicher, dass sie Dir auf Deinem Weg auch helfen werden.
Übung 1: Tagebuch
Führe ein Tagebuch, in dem Du Deine Gedanken und Gefühle rund um Deine Essstörung dokumentierst. Schreibe zum Beispiel auf, wie Du Dich fühlst, wenn Du hungerst, wenn Du isst, wenn Du Dich übergeben musst, oder wenn Du Dich mit Deinem Körper vergleichst.
Übung 2: Selbstfürsorge
Achte auf Deine Selbstfürsorge. Achte auf ausreichend Schlaf, eine gesunde Ernährung und auf ausreichend Bewegung. Mache Dinge, die Dir Spaß machen und Dich glücklich machen.
Übung 3: Achtsamkeit
Übe Achtsamkeit, um Dich auf den gegenwärtigen Moment zu konzentrieren. Achte auf Deine Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen.
Abschluss: Ein Schritt in Richtung Heilung und Selbstakzeptanz
Zum Abschluss möchte ich betonen, dass Heilung und Veränderung möglich sind. Die Reise kann lang und herausfordernd sein, aber sie ist nicht unüberwindbar. Durch das Teilen meiner eigenen Erfahrungen und Kämpfe hoffe ich, dass ich Dir Hoffnung auf Heilung geben und mehr Verständnis für Dein Verhalten geben kann.
Ich möchte Dich ermutigen, sanft mit Dir selbst zu sein und den Mut zu finden, den ersten Schritt zur Veränderung zu machen. Ob es darum geht, Dir Unterstützung zu holen, über Dein Problem zu sprechen oder mit kleinen Schritten der Selbstfürsorge zu beginnen – jeder Schritt zählt auf dem Weg zur Heilung.
Falls Du Dich einer in einer ähnlichen Situation wie ich damals befindest, dann melde Dich gerne bei mir. Ich kann Dir helfen, Deine Essstörung zu überwinden und ein erfülltes Leben zu führen.
Liebe Grüße Deine Janina
„Die Zeit die wir uns nehmen, ist Zeit, die uns etwas gibt.“
Erich Fried