Um 23:47 Uhr stand ich in meiner Küche. Überall leere Verpackungen. Mein Magen tat weh, mein Kopf auch. „Nicht schon wieder“, dachte ich und hasste mich dafür. Kennst Du dieses Gefühl nach einem Essanfall? Diese Mischung aus Scham und Verzweiflung.
Du verurteilst Dich selbst, planst die nächste Diät oder denkst an drastische Gegenmaßnahmen. Vielleicht warst Du auch wie in Trance und merkst erst hinterher, was passiert ist. Du versteckst die Verpackungen und fühlst Dich völlig isoliert. Diese Selbstverurteilung macht alles noch schwerer. Du zweifelst daran, jemals aus diesem Muster herauszufinden.
Nach 12 Jahren mit Bulimie und Magersucht weiß ich, dass dieser Moment alles entscheidet. Nicht der Essanfall selbst ist entscheidend, sondern wie Du danach mit Dir umgehst. Ich habe in der Recovery gelernt, aus jedem Essanfall zu lernen. Dieser Artikel zeigt Dir, warum „keine Gegenmaßnahmen“ das Wichtigste ist, was Du tun kannst. Entdecke Strategien, die mir und vielen meiner Klientinnen geholfen haben.
Was genau ist ein Essanfall? Meine Erfahrungen und Definition
Ein Essanfall ist mehr als nur „zu viel essen“. Es ist ein Zustand, in dem Du große Mengen an Nahrung in relativ kurzer Zeit zu Dir nimmst und dabei das Gefühl hast, die Kontrolle verloren zu haben. Während eines Essanfalls fühlst Du Dich oft wie in Trance. Du merkst oft erst hinterher, was Dir passiert ist.
Bei mir war es so, dass ich einfach nicht mehr stoppen konnte. Es war, als würde jemand anderes meinen Körper steuern. Typisch für Essanfälle ist auch, dass sie meist unabhängig vom körperlichen Hunger auftreten. Du „musst“ einfach essen, obwohl Dein Körper gar nicht nach Nahrung verlangt.
Die Lebensmittel während eines Essanfalls sind oft sehr kalorienreich. Aber es kann auch vorkommen, dass Du große Mengen an vermeintlich „gesunden“ Lebensmitteln verzehrst. Das Entscheidende ist nicht, WAS Du isst, sondern WIE Du isst und wie Du Dich dabei fühlst.
Essanfälle gehen oft mit starken emotionalen Belastungen einher. Stress, Ärger, Traurigkeit oder Langeweile können Auslöser sein. Das Essen wird zum Bewältigungsmechanismus, um mit schwierigen Gefühlen umzugehen oder sie zu unterdrücken. Bei mir dienten Essanfälle lange Zeit dazu, meine Emotionen zu betäuben. Ich wusste einfach nicht, wie ich sonst damit umgehen sollte.
Die häufigsten Gründe für Essanfälle verstehen
Essanfälle haben immer einen Grund. Sie passieren nicht einfach so. In meinen 12 Jahren mit der Essstörung und heute in der Arbeit mit meinen Klientinnen sehe ich immer wieder ähnliche Muster. Die Gründe können von Person zu Person unterschiedlich sein, aber es gibt typische Auslöser.
Emotionale Belastungen als Auslöser
Der häufigste Grund sind emotionale Belastungen. Essanfälle dienen als Bewältigungsmechanismus für starke Gefühle wie Stress, Ärger, Traurigkeit oder Langeweile. Das Essen bietet vorübergehend Trost, lenkt ab oder betäubt unangenehme Gefühle. Bei mir war das lange Zeit der einzige Weg, mit meinen Emotionen klarzukommen. Als ich weniger Essanfälle hatte, kamen erst all die Gefühle hoch, mit denen ich gar nicht umgehen konnte.
Restriktive Ernährung und ihre Folgen
Ein weiterer wichtiger Grund sind Diäten oder restriktive Essgewohnheiten. Wenn Du Dir bestimmte Lebensmittel verbietest oder Dich einer strengen Diät unterziehst, kann Dein Körper förmlich nach den eingeschränkten Lebensmitteln schreien. Und genau diese „verbotenen“ Lebensmittel sind es dann häufig, die Du während eines Essanfalls konsumierst.
Gewohnheitsmuster erkennen
Essanfälle können sich auch aus jahrelangen Gewohnheiten entwickeln. Bei mir war es zum Beispiel so: Wenn ich nach der Arbeit nach Hause kam, führte mein Weg automatisch direkt in die Küche. Dann war der Essanfall praktisch schon vorprogrammiert. Diese automatisierten Verhaltensweisen in bestimmten Situationen oder zu bestimmten Zeiten können sehr mächtig sein.
Manchmal dienen Essanfälle auch als eine Art Pause. Du bist die ganze Zeit gestresst, machst viel für andere, aber wenig für Dich selbst. Ein Essanfall wird dann zu diesem Moment des „Durchatmens“, in dem Du endlich das Chaos rauslassen kannst. Natürlich ist das nur eine kurzfristige Pause und langfristig macht es Dich viel müder, als wenn Du Dir echte Erholung gönnen würdest.
Aber das Wichtigste ist nicht, warum Essanfälle passieren, sondern was Du danach machst.
Erste-Hilfe-Maßnahmen: Was Du direkt nach einem Essanfall tun kannst
Wenn Du einen Essanfall hattest, geht die Welt nicht unter. Mache Dich nicht verrückt, es ist nicht schlimm. Es ist ein Anzeichen, dass da noch etwas mehr hingeschaut werden sollte.
Die wichtigsten Schritte, die Dir sofort helfen:
Abstand von Selbstkritik nehmen
Das Allerwichtigste ist, dass Du Dich nicht selbst für diesen Essanfall verurteilst. Ich dachte immer, dass jetzt alles vorbei ist und ich wieder bei Null anfange. Und konnte das einfach nicht fassen. Ich habe mich so dafür verurteilt, wenn ich einen Essanfall hatte. Doch das bringt Dich nicht weiter.
Erinnere Dich stattdessen daran, dass es okay ist, dass Du ihn hattest. Das bedeutet nicht, dass jetzt das Ende der Welt gekommen ist. Negative Selbstgespräche reiten Dich nur immer weiter in den Teufelskreis hinein und erhöhen das Risiko für den nächsten Essanfall.
Sei stattdessen mitfühlend und verständnisvoll mit Dir selbst. Behandle Dich so, wie Du eine gute Freundin behandeln würdest, die gerade durch eine schwere Zeit geht.
Gegenmaßnahmen vermeiden
Es kann verlockend sein, nach einem Essanfall zu drastischen Maßnahmen zu greifen. Zum Beispiel zu übermäßig viel Sport, Abführtabletten, Erbrechen oder nichts mehr essen. Vermeide das unbedingt. Auch wenn Du Dich schlecht fühlst, versuche, dieses Gefühl auszuhalten. Gegenmaßnahmen sind noch ungesünder und bringen Dich nur tiefer in den Kreislauf hinein.
Gib Deinem Körper stattdessen Ruhe und versuche, Dir dadurch einen Ausgleich zu verschaffen.
Zeit für Selbstreflektion schaffen
Nimm Dir etwas Zeit, um über die Gründe für den Essanfall nachzudenken. War da ein bestimmter Auslöser? Welche Emotionen waren präsent? Gibt es ein Muster, das Du erkennst? Diese Reflektion ist wichtig, um zu verstehen, wann Du anfällig für Essanfälle bist.
Ich hatte dafür ein kleines Notizbuch, in dem ich nach jedem Essanfall notierte, was davor passiert war. Nach einigen Wochen sah ich deutliche Muster. So konnte ich daran arbeiten.
Gesunde Ablenkung finden
Es ist völlig okay, wenn Du Dich nach dem Essanfall ablenkst. Widme Dich Aktivitäten, die Dir guttun und Freude bereiten. Vielleicht so etwas wie einen Spaziergang an der frischen Luft machen, ein Instrument spielen, malen, Dich mit Freunden treffen. Nimm Dir Zeit für Selbstfürsorge und tue etwas Gutes für Dich selbst.
Du kannst Dir auch Unterstützung holen. Rede mit Familienmitgliedern, Deinem Freund oder Deiner Freundin. Wenn Du einen Therapeuten hast, erzähl es ihm. Dafür brauchst Du Dich nicht zu schämen. Nur so kann Dir auch geholfen werden.
Aus jedem Essanfall lernen
Du kannst so viel aus einem Essanfall lernen. Ich hatte in meiner Recovery drei, vier Monate keinen Essanfall gehabt. Und dann auf einmal hatte ich wieder welche. Ich dachte, jetzt ist alles wieder vorbei. Aber das tut man nicht. Das, was man vorher gelernt hat, wo man vorher schon hingeschaut hat, das ist ja nicht auf einmal weg.
Ich hab dann weiter hingeschaut und gesehen, dass mir die Essanfälle etwas sagen wollen. So geht es nicht weiter. Im Prinzip kann man dann den Essanfällen dankbar sein, dass sie einem gezeigt haben, wo man noch genauer hinschauen soll.
Damit Du für Dich auch forschen kannst, möchte ich Dir ein paar Fragen mitgeben. Stelle Dir nach einem Essanfall diese wichtigen Fragen:
Emotionen und Auslöser identifizieren
- Was habe ich während des Essanfalls gefühlt? Welche Emotionen waren präsent? Zum Beispiel Stress, Traurigkeit, Langeweile, Angst.
- Gab es bestimmte Auslöser oder Situationen, die den Essanfall begünstigt haben? Zum Beispiel bestimmte Lebensmittel, soziale Situationen, Gedanken oder Ereignisse?
- Wie war mein Hunger- oder Sättigungsgefühl vor dem Essanfall? Habe ich aus Hunger oder aus anderen Gründen gegessen?
Muster erkennen und verstehen
- Habe ich vor dem Essanfall bestimmte Diäten oder restriktive Essgewohnheiten eingehalten? Hatte ich das Gefühl, bestimmte Lebensmittel mir zu verbieten?
- Welche Gedanken oder innere Kritik hatte ich während des Essanfalls? Was habe ich mir selbst gesagt?
- Gibt es Muster oder wiederkehrende Situationen, die zu Essanfällen führen?
Alternative Bewältigungsstrategien entwickeln
- Welche anderen Strategien zur Bewältigung von Emotionen oder Stress könnte ich anwenden, anstatt zu essen?
- Was kann ich aus diesem Essanfall lernen? Gibt es positive Schritte, die ich unternehmen kann, um in Zukunft besser mit ähnlichen Situationen umzugehen?
- Welche Unterstützung kann ich mir holen, um mit Essanfällen umzugehen?
Schreibe Dir diese Fragen gerne auf. Wenn Du das nächste Mal einen Essanfall haben solltest, kannst Du Dir diese Fragen stellen. Es geht darum, mehr Bewusstsein dafür zu bekommen. Denn je größer das Bewusstsein ist, desto mehr kannst Du auch eingreifen, sodass es nicht zu einem Essanfall kommt.
Langfristige Strategien zur Vermeidung von Essanfällen
Das Vermeiden von Essanfällen kann eine Herausforderung sein. In meiner Arbeit mit Frauen sehe ich, dass es bei jeder Person anders ist. Deswegen ist auch oftmals eine individuelle Arbeit besser, weil man natürlich auf die Situation viel gezielter eingehen kann. Aber ich möchte Dir allgemeine Tipps mitgeben, die Du für Dich anwenden kannst.
Regelmäßige Mahlzeiten etablieren
Wenn Du regelmäßige Mahlzeiten zu Dir nimmst, vermeidest Du automatisch längere Hungerphasen. Dann nimmt das Verlangen nach großen Mengen an Nahrung auch ab. Der sogenannte Heißhunger kann gar nicht entstehen, weil Dein Stoffwechsel viel gesünder ist und auch Dein Blutzucker viel stabiler ist. Das reduziert Essanfälle erheblich.
Achtsames Essen praktizieren
Nimm Dir Zeit für Deine Mahlzeiten. Versuche, alles andere auszuschalten, wie Fernsehen, Radio oder Dinge, die Dich ablenken. Versuche wirklich, Dich auf Dich und Dein Essen zu konzentrieren. Gehe in Dich hinein und höre auf Deinen Körper. Habe ich jetzt eigentlich noch Hunger? Warum würde ich jetzt noch weiter essen? Hinterfrage Dich da wirklich. Sei achtsam und gehe in die Selbstbeobachtung.
Stressmanagement verbessern
Finde für Dich gesunde Wege, um mit Stress umzugehen. Stress ist ein häufiger Auslöser für Essanfälle. Mit Meditation, Atemübungen und Yoga kannst Du aktiv an Deinem Stressmanagement arbeiten. Genauso gut kannst Du aber auch Deine Hobbys ausleben, ein Instrument spielen, malen, spazieren gehen. Bei mir war das ein sehr wichtiger Punkt in meiner Recovery.
Trigger bewusst vermeiden
Bei mir war es zum Beispiel so, dass bestimmte Lebensmittel immer einen Essanfall ausgelöst haben. Diese habe ich in der ersten Zeit vermieden zu essen. Ich habe mir gesagt: „Okay, die esse ich jetzt erstmal nicht.“ Und habe sie nach und nach wieder eingebaut. Aber erst als ich mich wirklich sicher gefühlt habe. Ich wusste: „Okay, ich bin stabil, ich werde keinen Essanfall bekommen.“
Es geht nicht darum, dass Du Dir jetzt etwas verbietest, sondern erstmal darum, Dich zu schützen. Wir wollen als Erstes keine Essanfälle mehr haben, und die Trigger-Lebensmittel werden dann nach und nach wieder eingebaut. Wenn Du weißt, dass Nudeln auf jeden Fall immer einen Essanfall auslösen, dann vermeide diese erstmal.
Wenn Du merkst, dass Du alleine nicht weiterkommst, was völlig normal ist, dann scheue Dich nicht, Dir Unterstützung zu holen. Es ist wichtig, dahin zu schauen. Du darfst es und solltest es nicht auf die leichte Schulter nehmen. Denn der Weg aus Essanfällen ist möglich, auch wenn er Zeit braucht.
Dein Weg zu einem entspannten Verhältnis zum Essen
Du hast nun konkrete Werkzeuge, um anders mit Essanfällen umzugehen. Das Wichtigste ist: keine Selbstverurteilung und keine Gegenmaßnahmen. Nimm Dir Zeit für Reflektion und finde heraus, was Dir Deine Essanfälle sagen wollen.
Der Weg heraus ist möglich, das kann ich Dir aus eigener Erfahrung sagen. Jeder Essanfall kann ein Schritt in Richtung Freiheit sein, wenn Du lernst, aus ihm zu lernen. Es braucht Zeit und Geduld mit Dir selbst, aber Du kannst es schaffen.
Veränderung passiert nicht über Nacht. Sei liebevoll mit Dir, auch wenn Du Rückschläge hast. Du bist nicht Deine Essanfälle. Du bist so viel mehr.
Du bist nicht alleine mit Deinen Essanfällen. Auch wenn Du noch Zweifel hast oder Angst vor Veränderung, das ist völlig normal. Ich hatte die gleichen Ängste. Jeder kleine Schritt zählt. Beginne heute damit, liebevoller mit Dir umzugehen.
Falls Du Dir Unterstützung auf diesem Weg wünschst, dann melde Dich gern. Dafür buche Dir einfach ein kostenfreies Kennenlerngespräch. Dort besprechen wir Deine nächsten Schritte.
Liebe Grüße Deine Janina
„Du kannst nicht zurückgehen und den Anfang ändern, aber Du kannst dort beginnen, wo Du bist, und das Ende ändern.“
C.S. Lewis
